Produktivität & Selbstorganisation

Aufschieberitis im Studium: Thesis-Coach Silvio Gerlach im Interview über Ursachen & Bewältigungsstrategien bei Prokrastination

Silvio Gerlach hat in Marburg VWL studiert, war dort Tutor und hat schon als Studi ein Repetitorium für Mathe, Statistik, BWL und VWL gegründet. Mit den Kursinhalten und Erfahrungen aus den Repetitorien gründete er schließlich den Verlag Studeo und verfasste erste Bücher zum Klausurtraining, u.a. mit mathematischem Fokus und vielen Rechenaufgaben zu Statistik.

Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Silvio im Coaching von Diplomarbeiten, Bachelorarbeiten, Masterarbeiten und Dissertationen und lässt seine Erfahrungen über wissenschaftliches Arbeiten als praktische Grundlage in weiteren Büchern einfließen, wie in “Thesis-ABC – In 31 Tagen zur Bachelorarbeit oder Masterarbeit”.

Abschlussarbeiten und Dissertationen sind gemeinhin dafür bekannt, zu Prokrastination zu verleiten. Welche Erkenntnisse und Tipps kann uns Silvio als erfahrener Thesis-Coach weitergeben? Dazu habe ich ihn für dieses Interview befragt.

 

Niemand sagt dir, was du wann und wie erledigen sollst. [...] Das ist der Unterschied zur Schule.

 

Marcus: Silvio, als Coach hast du Einblicke in den Kontext, in dem sich Studierende an dich wenden. Kannst du erklären, wie und vor allem wo Prokrastination besonders im Studium entsteht? Gibt es typische Verhaltens- oder Denkmuster, an denen Studierende eine Tendenz zur Prokrastination erkennen können?

Silvio: Gelegenheiten für Prokrastination oder Aufschieberei von Aufgaben gibt es überall im Studium. Die Erledigung wird aufgeschoben, bis es nicht mehr geht. Das trifft besonders auf langwierigere Aufgaben zu. Daran besteht ja im Studium kein Mangel. Wir haben Klausuren, Referate, mündliche Prüfungen, Vorträge und später Hausarbeiten, Studienarbeiten, Praktikumsberichte, Bachelorarbeit, Masterarbeit und so weiter. All diese Aufgaben haben eins gemeinsam: sie sind nicht schnell erledigt.

Ein wichtiger Grund für das Auftreten von Prokrastination ist das Fehlen einer externen Vorgabe für das Vorgehen. Niemand sagt dir, was du wann und wie erledigen sollst. Du musst das selbst rausfinden und planen. Das ist der Unterschied zur Schule.

Bei Prokrastination zeigt sich ein Verhaltensmuster. Sie kann immer dann entstehen, wenn eine Aufgabe neuartig ist, länger dauert, das Vorgehen unklar und die Erfahrung mit solchen Aufgaben begrenzt ist.

 

Habe ich früher nicht allzu gut abgeliefert oder bin sogar gescheitert, ist das Selbstvertrauen nicht gerade hoch und der Enthusiasmus ebenfalls nicht.

 

Marcus: Gibt es psychische Auslöser und Ursachen, die maßgeblich die Entstehung von Prokrastination bei Studierenden beeinflussen?

Silvio: Nach meiner Erfahrung sind es vor allem zwei Faktoren, die Prokrastination fördern: Angst vor Fehlern und Selbstzweifel. Sobald ich eine neuartige Aufgabe habe und keine konkrete Vorgehensweise vorgeschrieben ist, fange ich an zu grübeln. Natürlich fürchte ich mich vor dem Scheitern. Bei Aufgaben im Studium geht es schließlich immer um eine Art der Bewertung und Fehler können negative Folgen haben. Diese Angst vor Fehlern ist der erste Faktor.

Der zweite Faktor sind Selbstzweifel aufgrund negativer Erfahrungen in der Vergangenheit. Habe ich früher nicht allzu gut abgeliefert oder bin sogar gescheitert, ist das Selbstvertrauen nicht gerade hoch und der Enthusiasmus ebenfalls nicht.

Unser kurzfristiger Umgang mit diesen beiden Faktoren ist bezeichnend. Die Aufgabe wird so lange aufgeschoben, bis die Deadline zum Handeln zwingt. In dieser Aktionsphase bleibt dann nichts anderes übrig, als die Ängste und Zweifel auszublenden und einfach zu machen. Die Angst vor dem Reißen der Deadline ist stärker als die Furcht vor Fehlern. Sie erklärt die Nachtschichten kurz vor der Abgabe. Das Arbeiten geschieht wie in Trance, fast mechanisch und mit Tunnelblick. Wochen später wundert man sich, wie das überhaupt gelingen konnte.

 

Marcus: Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen kann Prokrastination auf Leistungsfähigkeit und Psyche haben?

Silvio: Diese Arbeitsweise kann einen richtigen Teufelskreis in Gang setzen. Ich habe eine schwierige Aufgabe, bei der es um etwas geht. Sobald ich sie aufschiebe, habe ich so kurz vor der Deadline nicht mehr genug Zeit, die Aufgabe richtig zu durchdenken und ihre Umsetzung zu planen. Also mach ich einfach das, was ich kann. Das Ergebnis ist in der Regel durchwachsen bis schlecht und knabbert am Selbstvertrauen, was sich bei den nächsten Aufgaben bemerkbar machen wird. So geht es immer weiter.

Der Knackpunkt hier ist das Lernen, nämlich zu lernen, wie diese bestimmte Aufgabe gut zu bewältigen ist. Das ist allerdings merkwürdig. Geht es denn im Studium nicht genau darum, die Umsetzung schwieriger Vorhaben und Aufgaben zu erlernen und besser darin zu werden? Das ist definitiv die Idee eines Studiums. Aber unter Zeitdruck ist kaum noch Raum fürs Lernen. Ich sehe das immer wieder in meinen konkreten Coaching-Projekten für Thesis und Dissertation. Wegen Abgabedruck bleibt keine Zeit, noch mal die Anleitung durchzulesen und sich über das Vorgehen Gedanken zu machen.

Das hat noch einen weiteren Effekt, der wahrlich nicht gut ist. Die Suche nach Abkürzungen verführt zu Kompromissen, die unserem ethischen Grundgerüst eigentlich zuwiderlaufen. Ich spreche von Abschreiben oder dem Einsatz von KI-Tools für Denkaufgaben, die wir eigentlich selbst erledigen sollten. Dann bleibt nach dem Projekt neben dem Gefühl von Unvermögen auch noch das Gefühl, nicht so ganz ehrlich gewesen zu sein oder sogar direkt betrogen zu haben. Das ist keine gute Entwicklung.

 

Helfen kann das Nachdenken darüber, was hier eigentlich abläuft. Das ist die berühmte Frage nach dem Sinn. Wozu mache ich das eigentlich?

 

Marcus: Woran erkennen Studierende, dass ihre Prokrastination ein kritisches Maß erreicht hat, und wann sollten sie sich auch Hilfe suchen?

Silvio: Das ist eine sehr gute Frage. Sie zielt darauf, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Nach meiner Erfahrung ist das außerordentlich schwer, solange die Aufmerksamkeit nur auf dem Abarbeiten der Aufgaben im Studium liegt. Das dürfte aber gerade im Fernstudium der Normalfall sein. Es sind so viele Aufgaben, so viele Prüfungen, so viel Lernstoff zu bewältigen, dass kaum Zeit für Reflektion bleibt. Das ist wie immer im Leben, wenn wir in einem Trott sind. Da auszubrechen ist schwer.

Helfen kann das Nachdenken darüber, was hier eigentlich abläuft. Das ist die berühmte Frage nach dem Sinn. Wozu mache ich das eigentlich? Ich wollte doch mithilfe des Studiums meine Möglichkeiten erweitern, mir neues Wissen aneignen und meine Fähigkeiten ausbauen. Trägt es wirklich zur Verbesserung meiner Fähigkeiten bei, wenn ich aus verschiedenen Texten einen neuen zusammen bastele, unter Mithilfe von KI? Die Antwort ist offensichtlich nein. Aber ich kann in dem Moment einfach nicht anders, als die aktuelle Aufgabe irgendwie umzusetzen, damit ich ins nächste Semester gelassen werden oder die Zulassung für etwas bekomme…

Doch das ist nicht allein die Schuld der Aufschiebenden. Hier gibt es noch ein tieferliegendes Problem.

Unsere Annahme ist, dass uns das Studienprogramm und die Studieninhalte helfen, das Ziel zu erreichen und unsere Kenntnisse und unser Können zu erweitern. Aber die Wirklichkeit spricht da eine andere Sprache. Wir haben viele Aufgaben zu erledigen, deren Bezug zu unserem Ziel nicht klar ist. Die stammen aus dem letzten Jahrhundert und die KI offenbart nur die Schwachstellen.

Meine Empfehlung ist, sich häufiger diese eine Frage zu stellen. Wofür mache ich das Studium? Was will ich nach dem Studium mit den neuen Kenntnissen und Fähigkeiten anstellen? Die Antworten darauf können helfen, den Teufelskreis der Prokrastination zu durchbrechen.

 

Marcus: Welche Hilfestellungen können Hochschulen, Dozierende oder ein Coaching, wie du es anbietest, geben, um Studierenden bei der Vorbeugung oder Überwindung von Prokrastination im Studium zu helfen?

Silvio: Das sind gleich zwei Fragen auf einmal. Hochschulen und die Dozierenden haben natürlich andere Möglichkeiten als Coaches. Hier beißen sich aber zwei Philosophien. Einerseits wird davon ausgegangen, dass eine Hochschule nur formal eine Schule ist und die Studierenden eigentlich den Weg selbst finden müssen. Man lässt ihnen alle Freiheiten, das Vorgehen zur Lösung einer Aufgabe selbst zu finden. Dozierende mischen sich daher weniger stark ein als Lehrende in der Schule. Aber andererseits ist das eine Herausforderung, gerade unter Zeitdruck. Einige Hochschulen sind schon aufgewacht und bieten bessere Anleitungen zur Bewältigung komplexer Aufgaben. Das ist begrüßenswert.

Ein Coaching dagegen bietet individuelle Möglichkeiten. Es kann gezielt helfen, den Teufelskreis aus Ängsten, Aufschieben und Selbstzweifeln zu durchbrechen. Ich spreche in meinen Sitzungen immer das Vorgehen zur Lösung einer Aufgabe durch und wir legen kleinere Schritte fest. Deren Umsetzung führt recht schnell zu Erfolgserlebnissen. Diese vertreiben die Selbstzweifel, sind gut für das Selbstvertrauen und für die nächsten Aufgaben. Denn Erfolg führt zum nächsten Erfolg.

 

Was in der Praxis gegen Prokrastination oder Aufschieberei definitiv hilft, ist ein Innehalten vor der Erledigung einer Aufgabe [...] einen Plan zu machen und Techniken für die Umsetzung der Aufgabe zu finden.

 

Marcus: Gibt es Methoden oder Strategien, die du pauschal empfehlen kannst, um Prokrastination im Studium, insbesondere bei der Erstellung von Projekt- oder Abschlussarbeiten und Dissertationen, zu vermeiden?

Silvio: Meine Lieblingsstrategie fasse ich unter die Rubrik „feige und faul“. Du hast eine Aufgabe, die du zum ersten Mal erledigen sollst. Daher hast du also kaum Ahnung, wie das konkret geht. Bevor du sie jetzt irgendwie erledigst und in Sackgassen gerätst oder sie jetzt aufschiebst und dann eben später in Sackgassen gerätst, solltest du lieber faul sein und fragen: „Will ich ewig rumprobieren, wie ich diese Aufgabe lösen kann und dabei riskieren, dass ich es nicht schaffe oder zu viel Zeit damit vergeude?“ Die Antwort ist offensichtlich: „Ich schaue mich lieber nach einem bewährten Lösungsweg um.“

Das Ziel ist, die Lösungen und Techniken der Profis zu finden und zu nutzen. Das ist wie bei schweren Klausuraufgaben. Dafür gibt es Musterlösungen. Die machen alles leichter.

Solche Musterlösungen gibt es auch in der Abschlussarbeit und in Dissertationen. Es gibt Mustergliederungen, effiziente Techniken zum schnellen Finden passender Quellen, zum Sammeln von Informationen oder zum schnellen Schreiben von Kapiteln. Ich habe eine Schreibtechnik entwickelt, mit der sich fünf Seiten wissenschaftlicher Text pro Tag schreiben lassen, egal in welchem Kapitel. Diese Mikrofragentechnik aus dem Schreib-ABC führt schnell zu gutem Text. Die Faulheit findet Techniken, die Zeit sparen.

Eng damit verbunden ist die Feigheit, eine wichtige und komplexe Aufgabe aus Furcht vor dem Scheitern nur mit einem Plan anfangen. Sei feige und gib zu, dass du bei dieser Aufgabe richtig scheitern kannst und einen guten Plan brauchst. Die Zerlegung der Aufgabe in Teilaufgaben und deren Planung hilft, Sackgassen und Scheinlösungen frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Von Anfang an richtig vorzugehen ist die Devise.

Für das Zerlegen und Planen von Aufgaben gibt es so viele Techniken, dass ich dazu ein Buch schreiben musste: „Mach’s! – 50 Techniken gegen Aufschieberei“. Die meisten Techniken zielen darauf, die Aufgabe so zu strukturieren, dass sie sich leicht umsetzen lässt.

Eine beispielhafte Technik ist das Vierteilen. Du teilst deine Aufgabe in vier Teilaufgaben. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist eine Teilaufgabe deutlich leichter als die anderen. Die erledigst du zuerst, dein Selbstvertrauen wächst und dann kommen die anderen Aufgaben dran.

Was in der Praxis gegen Prokrastination oder Aufschieberei definitiv hilft, ist ein Innehalten vor der Erledigung einer Aufgabe. In diesem Moment der Ruhe und des Nachdenkens geht es darum, einen Plan zu machen und Techniken für die Umsetzung der Aufgabe zu finden. Manchmal gehört auch Lernen dazu. Das Planen spart Zeit und das Selbstvertrauen wächst mit jedem Erfolg.

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